Zunächst klingt es nach einer lobenswerten Sache zur Stärkung der Demokratie in unserer Gesellschaft. Auf jeden Fall hat sich die VZ-Gruppe mit ihrer von großen Kooperationspartnern unterstützten Aktion „Mein Stimme zählt!“ auf breiter Basis Aufmerksamkeit gesichert, zudem in einem Bereich, in dem man gegenüber dem Angreifer Facebook seinen Heimvorteil ausspielen kann.
Zusammen mit Partnern wie Spiegel Online, tagesspiegel.de, Cicero, ZEIT online, Politikfabrik e. V., politik.de, ZDF und dem Informationsbüro Europäisches Parlament wird die VZ-Gruppe auf ihren Plattformen studiVZ.de und meinVZ.de eine „Wahlkampfzentrale“ anbieten. Darauf möchte man „einen schnellen und direkten Kontakt zu den Parteien und Kandidaten sowie vielfältige Informationen zu allen in diesem Jahr anstehenden Wahlen“ anbieten, wie es in der Presseerklärung des Sozialen Netzwerks heißt. „Mit dem Button ‚Meine Stimme zählt!‘, den sich jeder in das eigene Profil laden kann, werden über 10 Millionen wahlberechtigte VZ-Nutzer – darunter 70 Prozent aller Erst- und Jungwähler – mobilisiert. Darüber hinaus erhalten die Nutzer aktuelle Hintergrundinformationen, Umfragen, Videos und Analysen von ausgewählten Medien- und Kooperationspartnern wie dem ZDF, Spiegel Online, ZEIT Online, tagesspiegel.de, Cicero und politik.de.“
Vom Mai bis September soll dieser Bereich aufmerksamkeitsstark in die Communitys eingebunden werden. Nur zwei Klicks seien die Mitglieder von überprüften Profilen der Kandidaten sowie Parteien entfernt, preist man die „Wahlkampfzentrale“ an. Da wird einiges mehr geboten als auf Standardprofilen, was nebenbei bemerkt, ein geschickter Weg ist, um das Thema Edelprofile zu promoten. Audioplayer, Videoplayer, Newsletterfunktionalität, Microblog-Status und RSS-Feeds stehen den Wahlkämpfern zur Verfügung.
Auf dem Höhepunkt des Superwahlkampfjahres wird ab August eine Deutschland-Wahlkarte geschaltet, die alle Kandidaten in den 299 Wahlkreisen der Bundestagswahl vorstellt. Markus Berger-de León, CEO studiVZ Ltd lobt die Maßnahmen so: „Mit unserer Aktion ‚Meine Stimme zählt!‘ wollen wir Millionen junger Wähler mobilisieren, politische Inhalte neuartig vermitteln und den Dialog zwischen politischen Entscheidungsträgern und unseren Mitgliedern deutlich erhöhen. Wir sind überzeugt, dass unsere Aktivitäten den Wahlkampf entscheidend prägen werden.“
Zunächst ist es höchst problematisch, wenn diese Möglichkeit des Wahlkampfs allein den im Bundestag aktuell vertretenen Parteien offen steht. Immerhin ist die VZ-Gruppe mit ihren 13,5 Millionen Mitgliedern eine bedeutende Größe. Hier nicht die gleichen Zugangschancen zu bekommen, ist für ausgeschlossene Parteien ein empfindlicher Wettbewerbsnachteil. Noch problematischer wird diese Ungleichbehandlung vor dem Hintergrund, dass es neben der Bundestagswahl im Herbst noch einige andere Wahlen gibt, in denen andere als die aktuell im Bundestag vertretenen Gruppierungen eine Rolle spielen. Eine Ungleichbehandlung durch die VZ-Gruppe bedeutet, Politik zu machen und nicht nur eine Plattform bereitzustellen. Laut Tagesspiegel dürfen sich auf Länderebene allerdings doch andere Parteien wie etwa die NPD darstellen, was in der Tat für Zündstoff sorgen dürfte.
Nach der allgemeinen Obama-Begeisterung und seinem tatsächlich bemerkenswerten Präsidentschaftswahlkampf war schnell klar, dass die deutschen Politiker das Web 2.0 ebenfalls würden nutzen wollen. Hier soll es nicht darum gehen, uns gemeinsam auf peinliche Nachahmeraktionen einzustimmen. Damit müssen anschließend in erster Linie die Kandidaten selbst leben und die sind erstens alt genug, um es im Zweifel besser zu wissen, und haben zweitens Berater, die sie davor bewahren könnten, ihren Ruf im Internet zu ruinieren. Nicht zuletzt ist es für Politiker unvermeidbar, in Zukunft mit den Sünden ihrer politischen Vergangenheit konfrontiert zu werden.
Für die „normalen Bürger“ stellt sich die Situation jedoch ganz anders dar: Jeder sollte sich die Frage stellen, ob er seine politischen Überzeugungen wirklich öffentlich machen möchte. Es sind jetzt schon einige Politiker und Parteien auf den Social Networks präsent. Soll wirklich jeder wissen, dass man Guido Westerwelle gut findet? Soll man sich öffentlich als Anhänger der Kanzlerin zu erkennen geben? Was denkt eigentlich der Chef in einer Firma, wenn er sieht, dass seine Assistentin „DIE LINKE“ gut zu findet?
Es ist erstaunlich, dass dieses Thema von denen, die vor der Preisgabe privater Daten in Social Networks warnen, bislang nicht aufgegriffen wird. Gerade junge Menschen dazu aufzufordern, ihre politischen Überzeugungen einer unkontrollierbaren Zahl von Menschen zu zeigen, ist ausgesprochen bedenklich. Wo sind die Leute, deren zweiter Vorname „Reputation Management“ sein könnte? Social Networks als Karrierefalle ist schließlich nicht nur hier im Blog ein Thema!
Die Information „Bis jetzt findet noch keiner Deiner Freunde Frank-Walter Steinmeier gut“ mutet noch nicht so brisant an, doch wie würden die Blogger-Kollegen wohl reagieren, wenn sie merken, dass jemand ein Fan von Wolfgang Schäuble oder Ursula von der Leyen wird?