Vier von zehn Menschen in Deutschland kennen nicht einmal die Telefonnummer ihres Lebenspartners auswendig. Selbst die allerwichtigsten Telefonnummern haben immer mehr Menschen nicht im Kopf. Das Softwareunternehmen Kaspersky Lab, das beim Institut Opinion Matters eine Studie zum Thema „digitale Amnesie“ beauftragt hatte, erklärt das zum Problem.
Also nicht nur das mit den Telefonnummern. Die Abhängigkeit von internetfähigen und gedächtnisunterstützenden Geräten bringe Risiken einer neuen Vergesslichkeit mit. Ich komme etwas weiter unten dazu, warum ich diesen Ansatz für schlimmen Unsinn halte. Aber werfen wir vorher ruhig einen Blick auf die Untersuchungsergebnisse!
Wir sind Abhängige
Die Menschen neigen dazu, auf einem digitalen Gerät gespeicherte Informationen zu vergessen und machen sich dadurch zunehmend abhängig von der Technik, ist die Grundaussage. 54 Prozent der in der Untersuchung befragten Eltern aus Deutschland (alle weiteren Angaben beziehen sich ebenfalls auf die deutschen Teilnehmer an dieser internationalen Studie) haben die Telefonnummern ihrer Kinder zwar im Smartphone, aber nicht in im Gedächtnis gespeichert; nur 10 Prozent kennen die Telefonnummer der Schule auswendig. Die Nummer ihres aktuellen Lebenspartners kannten 61,1 Prozent der Befragten, an die Nummer ihres Arbeitgebers erinnerten sich bloß 52,7 Prozent.
Generell unfähig, Telefonnummern im Kopf zu behalten, sind die Menschen heute allerdings nicht. 55,3 Prozent kannten noch ihre eigene Nummer aus der Kindheit. „Offensichtlich besteht also ein Zusammenhang zwischen der Nutzung mobiler Geräte beziehungsweise des Internets sowie der im Gedächtnis abgespeicherten Nummern“, heißt es in der Presseinfo von Kaspersky Lab. Das beobachtete Phänomen zog sich durch alle Altersgruppen, signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen zeigten sich ebenfalls nicht.
„So sehr Smartphones und Co. das Leben erleichtern, eine Art digitale Amnesie lässt sich nicht von der Hand weisen, mit möglichen Langzeitfolgen für unser Gedächtnis“, sagt Holger Suhl, General Manager DACH bei Kaspersky Lab. „Offenbar prägen wir uns selbst die Telefonnummern der engsten Angehörigen nicht mehr ein, weil sie mit einem Klick abrufbar sind. Eine überwältigende Mehrheit von 86 Prozent der von uns europaweit befragten Nutzer klagt außerdem über das Ausmaß von Nummern und Adressen in einer zunehmend vernetzten Welt, das die eigene Merkfähigkeit übersteigt. Gingen die digital gespeicherten Daten verloren, hätte das für viele dramatische Folgen.“
Muss ich mir das merken, oder kann das weg?
„Zu vergessen ist an sich nichts Schlechtes“, ergänzt Dr. Kathryn Mills vom Institute of Cognitive Neuroscience am University College London (UCL). „Der Mensch ist sehr anpassungsfähig und vergisst vieles, was nicht von Bedeutung ist. Problematisch wird es erst dann, wenn wir die vergessenen Fakten tatsächlich benötigen. Wir kümmern uns weniger darum, uns etwas merken zu müssen, weil wir es vernetzten Geräten anvertrauen. Der Internetzugang ist für uns so selbstverständlich geworden wie Strom oder Wasser.“
Zu den weiteren Ergebnissen nur in aller Kürze: Viele Menschen haben wichtige Daten ausschließlich auf ihren Smartphones und anderen vernetzten Geräten abgespeichert, schützen diese jedoch nicht mit Sicherheitslösungen wie etwa einem Virenschutzprogramm. Hier bringt das Unternehmen dann die eigenen Sicherheitslösungen ins Spiel.
Zunächst mal Respekt, so geht Content Marketing! Sogar ich verhelfe damit eher widerwillig den Sicherheitslösungen von Kaspersky Lab zu Aufmerksamkeit. Keinen Applaus gibt es von mir indes für die Warnung vor digitaler Amnesie. Vergessen wir mal, dass mit diesem Begriff auch das tatsächlich existierende Problem der Langzeitspeicherung bzw. des langfristigen Zugriffs auf digital gespeicherte Daten bezeichnet wird und halten uns an die im Rahmen der Studie gewählte Bedeutung!
Aus den Augen, aus dem Sinn
Soweit es um das anschauliche Beispiel von alltäglich gewählten Telefonnummern geht, würde ich nicht von einem Vergessen sprechen. Man lernt solche Nummern heute nicht mehr auswendig – nicht nur, weil die Motivation dafür fehlt. Da man die Nummern in der Regel nicht manuell eintippt, hat man sie nicht mehr beiläufig ständig im Blick bzw. übt sie halt nicht mehr im Alltag ein. Zum Teil wirft man auf die Nummern seiner Kontakte nicht ein einzigen Blick, weil man sie nicht manuell abspeichert, sondern beispielsweise per Mail eine vCard erhält, die man als Ganzes abspeichert. Mit Blick auf die vielen unterschiedlichen Kontaktmöglichkeiten, die wir heute haben, stellt sich außerdem die Frage, warum man ausgerechnet die Telefonnummer und nicht beispielsweise eine E-Mail-Adresse oder die ID des vom jeweiligen Kontakt favorisierten Instant Messaging Service im Kopf haben sollte.
Die Telefonnummern sind nur ein gutes Beispiel, wir merken uns heute viele Details nicht mehr. Weil wir es nicht müssen. (So wie die bisherigen PC-Kenntnisse für den Durchschnittsbürger an Bedeutung verlieren.) Wenn sich jemand bereits Sorgen darum macht, dass die Menschen aufhören, ihr Gehirn als Telefonbuch-Speicher zu verwenden, müsste er beim großen Trend Cloud Computing in den Krisenmodus schalten. Unsere heutige Abhängigkeit von technischen Geräten und Internetdiensten ist erst der Anfang.
KI aus der Cloud
Mit virtuellen digitalen Assistenten wie Siri, Google Now, Cortana, Alexa und Hound können wir bereits heute eine Menge Informationen aus unseren Köpfen löschen. Dabei ist die KI-Leistung immer noch auf einem Niveau, bei dem die Abkürzung KI besser für keine Intelligenz statt für künstliche Intelligenz stehen sollte. In zehn Jahren mag das bereits anders aussehen und dann wird es wirklich spannend. Wie weit wird unsere Abhängigkeit dann wohl fortgeschritten sein?
Davon abgesehen setze ich große Hoffnungen auf Mensch-Maschine-Schnittstellen, die uns eine direkte Vernetzung ermöglichen. Für vernetze Cyborgs, die wir einmal sein werden könnten ist Abhängigkeit von Technik absolut. Aus dieser Perspektive empfinde ich das Meckern über vergessene Telefonnummern als ignorante Kritik an der weiteren Evolution des Menschen. Was man nicht im Kopf hat, hat man in der Cloud!